T. Brückner: Die Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919–1939

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Titel
Hilfe schenken. Die Beziehung zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919–1939


Autor(en)
Brückner, Thomas
Erschienen
Zürich 2017: NZZ Libro
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 48,00
URL
von
Rolf Tanner

Auch heute noch werden die offizielle Schweiz und das Rote Kreuz oft im gleichen Atemzug genannt. Das helvetische Eigen- und Fremdbild als humanitäre Nation begründet sich im Wesentlichen mit dem Roten Kreuz, und dieses wiederum sieht in einer international mit der Schweiz assoziierten Neutralität ein unabdingbares Mittel des eigenen Erfolgs. Diese Verbindung besteht eigentlich seit der Gründung des Roten Kreuzes. Doch es war in der Zwischenkriegszeit, in der sie sich intensivierte und ein Verhältnis gegenseitiger Identifizierung und Abhängigkeit entstand, das dann vor allem während des Kalten Krieges dominierte.

Diese Entwicklungen der Zwischenkriegszeit zeichnet die Dissertation von Thomas Brückner nach. Ausgehend vom Konzept des Gabentausches von Marcel Mauss (S. 15– 22) analysiert er die Beziehungen zwischen der Schweiz und dem IKRK. Er tut dies anhand von drei Bereichen: der Entwicklung des humanitären Völkerrechts, des institutionellen Wandels und schliesslich der – wie es der Verfasser nennt – Selbst- und Fremdbeschreibungen. Diesen drei Abschnitten vorangestellt ist ein Kapitel, das den Stand der Literatur zusammenfasst und einen Abriss über die internationale humanitäre Ereignisgeschichte zwischen 1919 und 1939 bietet.

Der Erste Weltkrieg ist als die «erste grosse Bewährungsprobe» des IKRK bezeichnet wor- den.1 Neben der traditionellen Verwundeten- und Krankenversorgung rückte die Kriegsgefangenenbetreuung in den Fokus des IKRK. Die dabei gesammelten Erfahrungen mündeten 1929 in eine internationale Konvention zur Behandlung von Kriegsgefangenen. Sie bedeutete eine beträchtliche Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechtes und brachte eine Ausweitung des Tätigkeits- und Aufgabenfeldes des IKRK mit sich. Auch Massnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten waren Gegenstand von internationalen Konferenzen. Das IKRK und die Schweiz arbeiteten bei diesen Dossiers eng zusammen. Der Gabentausch zwischen dem IKRK und der Schweiz war offensichtlich: Ersteres konnte auf diplomatische und fachliche Ressourcen der Schweiz zurückgreifen – so sassen nun etwa aktive Bundesräte wie Gustave Ador und Giuseppe Motta in den Reihen des IKRK. Mit Max Huber nahm zudem ein herausragender Jurist im Gremium Einsitz, der vor seinem Engagement in Genf Vorsitzender des Schiedsgerichtshofes in Den Haag gewesen war. Von 1928 bis 1944 diente er dem IKRK als Präsident. Seine Person war katalytisch für die Verknüpfung von IKRK und Schweiz wie auch für die rechtliche Entwicklung: «In Hubers Reden über Recht fanden internationales Recht, Schweizer Recht und humanitäres Recht zusammen.» (S. 93). Die Schweiz wiederum gewann durch die Verbindung mit dem IKRK Legitimation für das eigene Anliegen der Weiterentwicklung des Völkerrechts, was nach dem Beitritt zum Völkerbund und dem Übergang zur differenziellen Neutralität als essentiell angesehen wurde. Dieser Gabentausch blieb auch weiterhin gültig, nachdem sich ab Anfang der 1930er Jahre der Horizont verdüsterte. Das IKRK betonte nun die Notwendigkeit der Neutralität für ein effektives humanitäres Handeln, und für die Schweiz wurde die Wahrnehmung der Humanität in Kriegszeit nach der Rückkehr zur Doktrin der integralen Neutralität zu einem wichtigen Element der Aussenpolitik. Erst jetzt nahm das Selbst- und Fremdbild der Schweiz als humanitäre Nation schärfere Konturen an – ein Bild, das bereits auf die spätere Maxime der schweizerischen Aussenpolitik von «Neutralität und Humanität» verwies (S. 99–108). Mit der gegenseitigen Identifizierung von Schweiz und Rotem Kreuz wuchs allerdings auch die gegenseitige Abhängigkeit, wie der Verfasser betont.

Auch im Abschnitt über den institutionellen Wandel geht es um die wechselseitige Nutzenstiftung durch Gabentausch. Die 1920er Jahre waren geprägt von der Rivalität zwischen dem IKRK und der 1919 gegründeten Liga der Rotkreuzgesellschaften. Für das IKRK war die Anlehnung an die Schweiz eine der Strategien, um sich im Streit mit der Liga und vor allem den viel finanzkräftigeren Ländergesellschaften (z.B. dem Amerikanischen Roten Kreuz) zu behaupten. Damit verbunden war eine Öffnung des IKRK für Schweizerinnen und Schweizer von ausserhalb des engen Zirkels von protestantischen männlichen Genfern.

Der dritte Abschnitt der Untersuchung widmet sich schliesslich der zunehmenden Praxis des gegenseitigen Ehrens und rhetorischen Wohlwollens. Neu war dieser Diskurs nicht: Gewisse Metaphern wie zum Beispiel jene von Genf (und damit der Schweiz) als der «Wiege» der weltweiten Rotkreuzbewegung, waren lange vor der Zwischenkriegszeit gängig. Sie wurden nun aber verstärkt aufgegriffen. Die Gründerfigur Henry Dunant wurde im Sinne der Schweiz vereinnahmt: Stellte ihn ein Porträt aus der Feder des Genfer Historikers Alexis François Dunant nicht als besonders glühenden Patrioten dar (was mit den Quellen übereinstimmte), zeichnete Max Huber in einem NZZ-Artikel aus dem gleichen Jahr ein Bild, in dem Dunant, das Rote Kreuz und die Schweiz regelrecht verschmolzen (S. 190–91).

Hilfe schenken ist eine solide Doktorarbeit aus der Werkstatt des emeritierten Zürcher Ordinarius Jakob Tanner. Sie ist in einer klaren, knappen Sprache formuliert und liest sich flüssig. Der Verfasser argumentiert stringent mit dem Konzept des Gabentausches. Kritikpunkte gäbe es höchstens im Gestalterischen: Längere Zitate hätten durch textliche Absetzung besser hervorgehoben werden können. Das Tabellen- und Abbildungsverzeichnis verfügt über keine Seitenzahlen. Und es bleibt etwas unklar, nach welchen Kriterien die sparsam verwendeten Bilder ausgewählt wurden. Keiner dieser Punkte tut dem Wert der Publikationen Abbruch.

1 Daniel-Erasmus Khan, Das Rote Kreuz. Geschichte einer humanitären Weltbewegung, München 2013 (C.H.Beck Wissen), S. 58.

Zitierweise:
Rolf Tanner: Rezension zu: Thomas Brückner, Hilfe schenken. Die Beziehungen zwischen dem IKRK und der Schweiz 1919–1939, Zürich: NZZ Libro, 2017. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 407-409.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 68 Nr. 2, 2018, S. 407-409.

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